Der deutsche Schlager-Boogie – Wie deutsche Produzenten den „Wirtschaftswunder-Boogie“ erfanden

Irgendwo im mittleren Westen der USA Anfang des 20. Jahrhunderts begannen Musiker damit, meist rasend schnell, rollende Bassfiguren im Blues-Schema in das Piano zu hämmern. Mit der rechten Hand folgte dann die virtuose Ragtime-Melodik oben drauf. Da war er geboren: der Boogie Woogie!

Der Boogie trat eine lange Reise an. In verschiedenen Gewändern; im Jazz, im Swing, im Jump Blues, im Rock’n’Roll, im Glam Rock (Marc Bolan mit dem unverschämt lasziven I Love To Boogie) und sogar im deutschen Schlager; tauchte die Grundidee des Boogie immer wieder auf.

Boogie produziert augenblicklich Adrenalin und reist einen vom gemütlichen Sofa hoch. Man muss einfach mitgehen; ob man will oder nicht. Musikwissenschaftler sagen es sachlicher. Sie sprechen von einem „motorisch wirkenden Unterbau“. (1)

Einen Höhepunkt der Verbreitung der Boogie-Spielweisen erreichten die US-amerikanischen Big Bands der späten 40er und beginnenden 50er Jahre. Es dauerte nicht lange und auch westdeutsche Musikproduzenten übernahmen Boogie-Spielweisen in verflachter Form für Schlager-Kompositionen.

Die stompology.org-Hausband Archie Ancora & His Motorboats hat es gleich mal ausprobiert mit drei Akkorden einen Boogie im Stil eines deutschen Schlagers der 50er Jahre zu komponieren und zu Gehör zu bringen. Nun ja, wir finden, dass Archie und Jungs eigentlich immer noch ein wenig zu ungezügelt losgelegt haben. Nach einer sehr strengen Plagiat-Prüfung durch die Fachabteilung für Urheberrechte haben wir uns dennoch entschieden dieses Machwerk der unbändigen Lebensfreude demnächst auf „Wir tanzen Boogie! Boogie Party Volume 122“ zu veröffentlichen.
Für Leserinnen und Leser, die Videos in Artikeln nicht mögen: hier das Werk Regenbogenboogie als MP3 zum Reinhören.

Zuvor hatten auch (vorübergehend) ostdeutsche Rundfunk-Orchester den Boogie-Woogie im Stil der US-amerikanischen Big Bands als „Tanzmusik“ adaptiert. Oft auf einem erstaunlich hohen künstlerischen Niveau, das sich nicht vor den Vorbildern der US-Bands verstecken musste. So etwa Franz Thon (mit „Boogie ohne Ende“).

Jedoch „roch“ dieser Boogie nicht nach pulsierender Großstadt, sondern nach Grundig Radios, Borgward Limousinen und den Zigarren des sogenannten Wirtschaftswunders der 50er Jahre.

Ich will keine Schokolade, ich will lieber einen Mann!

Mit der Wende in die 60er Jahre tauchten die ersten erfolgreichen deutschen Boogie-Hits basierend auf dem Stil der US-Musikerinnen und Musiker des R&B in den deutschen Musiksendungen auf.

Erfolgreiche deutsche Interpreten der bis zur Unkenntlichkeit geglätteten amerikanischen R&B-Boogies waren Peter Kraus und Ralf Bendix („Babysitter Boogie“). Zu dieser Zeit, Anfang der 60er Jahre, war es in den USA fast schon mit der Boogie-Begeisterung vorbei.

Ein witziger deutschsprachiger Boogie-Schlager gelang Trude Herr mit dem Song „Ich will keine Schokolade, ich will lieber einen Mann“. Der 3-Akkorde-Song ist eine Adaption des 1958 von dem US-Songschreiber Jack Morrow komponierten und von Randy Randolph gesungenen Rock’n’Roll Song Percolator.

Für das westdeutsche Publikum produzierte und arrangierte Ernst Verch den Song mit Trude Herr jedoch nicht mit E-Gitarren, sondern im oben erwähnten typischen Sound der „swingenden Rundfunkorchester“ der 50er Jahre. Tatsächlich gnadenlos professioneller Big Band Sound! Großes Kino auch im nachfolgenden Video der Auftritt von Trude Herr.

Es lassen sich gegenüber dem Boogie der afroamerikanischen Musiker und Musikerinnen sowie der weißen beherrschenden Rock’n’Roll-Industrie Unterschiede erkennen.

Schlager-Boogie

  • ist nahezu frei von sexuellen Anspielungen,
  • hat keine „zündelnden“ Piano-Exzesse wie bei Little Richard und Jerry Lee Lewis,
  • mildert die rhythmische Schärfe von Offbeat-Akzenten durch „Doo Wap Gesang„,
  • verzichtet auf Ecken und Kanten (disharmonische Einwürfe) und ausgedehnte, improvisierte Soli.

Ich wünsche viel Spaß bei der Beschäftigung mit dem Boogie-Schlager und freue mich, wenn dieser Artikel Anregungen und Mut zum spielerischen Mischen verschiedener Genres vermittelt.

Christian W. Eggers – 1. September 2024 – christian@stompologie.org – (letzte Aktualisierung dieses Artikels am 2. September 2024)

(1) Beispielhaft: Ekkehard Jost in Reclams Jazzlexikon, Seite 596, 2. Auflage, Stuttgart 2009

Bildnachweis Titelfoto: https://pixabay.com/de/service/license-summary/, Quelle: https://pixabay.com/de/photos/platten-schallplatten-vinyl-hifi-5148599/, Bildautor: https://pixabay.com/de/users/bru-no-1161770/

2 Gedanken zu “Der deutsche Schlager-Boogie – Wie deutsche Produzenten den „Wirtschaftswunder-Boogie“ erfanden

  1. Sehr Hübsch! Da fühle ich mich glatt 70 Jahre jünger.
    Ausgesprochen löblich auch, dass es eine Version ohne diesen neumodischen Video-Firlefanz gibt.

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